Unbekannte Welten voller unglaublicher Bilder. Eine junge Frau wird an ihren Haaren festgebunden, die Vergangenheit hält sie fest. Spärlich bekleidete junge Menschen vor bröckelnden Fassaden, die Zeit scheint still zu stehen. Ein Mensch mit Silberfolie umwickelt auf den Elbwiesen in Dresden, wie ein Außerirdischer auf einer Schafsweide. Diese und viele andere performative Fotos erschaffen die drei „Rebellinnen“ in den 1970ern und 80ern, auf der Suche nach sich selbst und nach einer Kunst, die etwas Echtes ausdrückt. Das Fotografieren oder das Drehen von experimentellen Super-8-Filmen ist dabei so wichtig wie das, was dabei herauskommt. Bildstarker weiblicher Underground in der DDR.
Tina Bara, Cornelia Schleime und Gabriele Stötzer sind drei Künstlerinnen, die in der Underground-Kunst-Szene in den 70er und 80er Jahren der DDR aktiv sind, in Ost-Berlin, Erfurt und Dresden. Sie arbeiten entweder für sich allein oder mit Kollegen und Freunden bzw. im Künstlerkollektiv. Ihre Kunst hat direkt oder indirekt immer auch einen biografischen Hintergrund. Als junge Frauen haben sie eine weibliche Sicht auf ihre Welt. Den austauschbaren Bildern der staatlichen Propaganda setzen sie eine einzigartige und intime Bildsprache entgegen. Doch werden sie von der Stasi und Inoffiziellen Mitarbeitern beschattet und massiv unter Druck gesetzt.
Gabriele Stötzer wird von Mitarbeitern der Stasi ein Transvestit zugespielt, den sie fotografieren soll, in der Hoffnung, dass sie sich beim Fotografieren der Pornografie schuldig macht – mit dieser und ähnlich manipulativen Methoden versucht die Stasi die junge Künstlerin ins Gefängnis zu bringen. Cornelia Schleime muss das Land 1984 über Nacht verlassen, nachdem sie nach jahrelangen Warten auf die Ausreise mit einem Hungerstreik droht. Tina Bara reist 1989 aus, indem sie heiratet. Im Anschluss braucht sie Jahrzehnte, um zu begreifen, wie tiefgreifend erschütternd der Wechsel von Ost nach West für sie tatsächlich war.
Gabriele Stötzer beschließt als einzige der Drei, in der DDR zu bleiben und „dort weiterzukämpfen“. Doch als sie Anfang der 90er ihre Stasi-Akte liest, „verbannt“ sie 20 Jahre lang diejenigen Freund:innen und Wegbegleiter:innen aus ihrem Leben, die sie an die Stasi verraten haben. Die Wunden der drei Rebellinnen, die sie durch Bespitzelung, Bedrohung, Lüge und Verrat erlitten haben, sind heute noch nicht ganz verheilt. Viele der im Film gezeigten Bilder werden erst jetzt entdeckt, ans Licht geholt und international gefeiert.
Gabriele Stötzer wird 1953 in Emleben in Thüringen geboren, wächst mit drei Geschwistern in dörflicher Umgebung auf und ist schon in jungen Jahren künstlerisch aktiv. Ab 1973 studiert sie Deutsch und Kunsterziehung an der Pädagogischen Hochschule Erfurt, wo sie 1976 wegen politischer Aktionen exmatrikuliert wird. 1977 wird sie wegen einer Unterschriftensammlung gegen die Ausbürgerung des Sängers Wolf Biermann zu einem Jahr im Frauengefängnis Hoheneck verurteilt.
Noch im Gefängnis fasst sie den Entschluss Kunst zu machen, denn Künstler:innen landen nicht so schnell im Gefängnis wie politisch Aktive. Doch muss sie die ersten drei Jahre nach dem Gefängnis „zur Bewährung in der Produktion“ in einer Schuhfabrik arbeiten. Im Anschluss kündigt sie, ihren Plan umzusetzen und endlich im Kunstbereich aktiv zu werden. Sie übernimmt eine Privatgalerie, besetzt mit Freund:innen ein Haus, in dem sie eine Webwerkstatt und ein Fotolabor einrichtet, und organisiert Pleinairs in Hüpstedt, wo sich freiheitlich denkende Künstler:innen treffen und arbeiten. Doch all diese Gruppen werden von der Stasi „liquidiert“. So verliert die Künstlerin wiederholt und über mehrere Jahre ihr jeweiliges soziales und künstlerisches Umfeld.
Sie arbeitet allein weiter, beginnt nun selbstständig mit Frauen zu arbeiten, was ihr eigentlicher Stoff wird. 1981 entwickelt sie mit Cornelia Schleime Performatives Fotografieren, setzt diese Art der Fotografie im Anschluss fort, sucht neue Gruppen und gestaltet den künstlerischen Underground der DDR mit. Sie schreibt, macht Super-8-Filme in Erfurt und Ost-Berlin und arbeitet mit Punks. 1984 gründet sie unter anderem mit ihrer Schwester die Künstlerinnengruppe Erfurt, die mit aufsehenerregenden Modeobjektshows und Performances an die Öffentlichkeit geht. Unter den Frauen der Gruppe ist keine ein Stasi-Spitzel, deshalb bleibt die Gruppe von einer Liquidation verschont.
Die Stasi behält Stötzer im Visier und beschließt „Voraussetzungen für die strafrechtliche Verfolgung zu schaffen“. Wie sich später herausstellen wird, sind mindestens vier der männlichen Fotomodelle, mit denen sie Fotoserien und Super-8-Filme macht, inoffizielle Mitarbeiter. Ein Transvestit soll Stötzer zu pornografischen Szenen animieren, die dann „strafrechtlich relevant“ hätten werden können. Sie fotografiert den Transvestiten zwar, doch wird sie nicht verhaftet. Ihre Fotos werden zu einem Dokument geschlechterübergreifender Ästhetik.
Am 4.12.1989 ist sie Teil einer Gruppe von Frauen, die, als erste überhaupt, eine Zentrale der Staatssicherheit besetzt, in Erfurt, was noch am selben Tag in Stasi-Zentralen anderer Städte fortsetzt wird.
Nach der Wende gründet sie mit der Künstlerinnengruppe das „Kunsthaus Erfurt“, veröffentlicht acht Bücher, u.a. über den Strafvollzug in Hoheneck. Von 2010 bis 2020 ist sie Dozentin für Künstlerische Performance an der Uni Erfurt. Für ihre Verdienste zur Aufarbeitung der SED-Diktatur erhält sie 2013 das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.
Ihre Fotoarbeiten, sowie die künstlerischen Werke der Künstlerinnengruppe Erfurt, werden derzeit national und international entdeckt. Vor allem seit der Ausstellung „re.act.feminism“ wird Stötzer ab 2009 zur internationalen Elite gerechnet. Einzelausstellungen im Jahr 2019: „Verführung“, in der Galerie Loock in Berlin und in Warschau. Ihre Kunst ist Teil von Gruppenausstellungen wie „Feministische Avantgarde“ (Verbund Wien, 2021) und wird u.a. veröffentlicht in dem Buch „Parallel Public“ von Sara Blaylock (The Press, Cambridge/London 2022). Sie lebt und arbeitet in Erfurt.
Tina Bara wird 1962 in Kleinmachnow geboren. Sie wächst in Wilhelm-Pieck-Stadt Guben an der Oder-Neiße-Friedensgrenze auf, einer nach dem 2. Weltkrieg geteilten deutsch-polnischen Stadt, die nachhaltig zerstört wurde. Nach eigenen Aussagen fühlt sie sich von den Narben der Nachkriegszeit und von der Sprache des Kalten Krieges bis heute geprägt, einer Zeit, in der immer nur vom Aufbau, aber nicht von den Verwüstungen und Umsiedlungen gesprochen wurde. Schon in ihrer Jugend sucht sie trotz sozialistisch/kommunistischer Gesinnung eher Kontakt zu jungen Menschen, die der real-sozialistischen Jugendorganisation FDJ und Parolen gesteuertem Denken kritisch gegenüberstehen, und bewegt sich in der Blues- und Jazzszene, wo sie auf junge (langhaarige) Männer trifft, die nicht zur Armee wollen, um das sozialistische Vaterland zu verteidigen, und Frauen, die ihre Elternhäuser frühzeitig verlassen, um allein ein Leben in der Großstadt zu wagen.
Von 1980 bis 1986 studiert sie Geschichte an der Humboldt Universität in Ost-Berlin, doch weder mit den autoritären Strukturen an der Universität noch mit dem ideologisch aufgeladenen Studienfach Geschichte kann sie etwas anfangen. Einen Ausweg findet sie im Nebenfach Kunstgeschichte, das sie zusätzlich studiert, um sich intensiv mit dem 1.Weltkrieg und den 20er Jahren in Berlin näher zu befassen. Sie entdeckt ihr aktuell erscheinende Zusammenhänge zwischen Kunst und Politik, sowie den Surrealismus, den Expressionismus, den Dadaismus und pazifistische sowie auch linksanarchische Strömungen und gleicht ihr historisches Studium mit der Gegenwart ab.
Während ihres Studiums wohnt sie mit dem Gründungsmitglied der ostdeutschen Grünen Partei, Umweltschützer und DDR-Bürgerrechtler Carlo Jordan, zusammen in einem besetzten, abbruchreifen Haus im Berliner Prenzlauer Berg und hat Kontakt zu oppositionellen Gruppen, unter anderem den „Frauen für den Frieden“ um Bärbel Bohley und Ulrike Poppe. Sie wird deshalb zu Verhören vorgeladen und erlebt in diesem Zusammenhang die Methoden der Staatssicherheit.
Sie sieht keine Zukunft im akademischen Feld einer Historikerin und beginnt mit Anfang 20 als Autodidaktin ihr Umfeld zu fotografieren. Fasziniert von Begegnungen, den dokumentarischen, fiktiven und alchimistischen Potentialen der Fotografie, lichtet sie ihre Freunde und Bekannten auf authentische Weise ab, allein oder zu mehreren, des Öfteren auch unbekleidet. Im Gestus der Melancholie und zur Schau getragenen, oft nackten Haut sieht sie einen Widerstand gegen verordnete Disziplin und langweiliges Spießertum.
Erstmals werden einige ihrer Fotos 1984 in der Untergrund-Künstlerzeitschrift „Entwerter/Oder“ in Ost-Berlin veröffentlicht. 1985 hat sie ihre erste Fotoausstellung in der Galerie im Kreis-Kulturhaus Treptow. Sie hat Glück. Die Fotos fallen auf und im Künstlerverband der Abteilung Fotografie weht ein „frischer Wind“. Zusammen mit drei anderen unangepassten Fotografen ihrer Generation, Sven Marquardt, Robert Paris und Jörg Knöfel (keiner von ihnen Absolvent einer Kunsthochschule) wird sie 1986 überraschend in den Verband Bildender Künstler der DDR (VBK) aufgenommen. Beruflich ist das ihre Rettung. Sie erhält eine Steuernummer, kann mehr oder weniger freiberuflich arbeiten. Sie kann sogar pro forma einen Freund anstellen, der somit (wie sie selbst) der Kriminalisierung durch die Verweigerung einer geregelten Arbeit entgehen kann.
Sie bekommt hin und wieder kleine Aufträge, eckt aber immer häufiger sowohl mit ihrer Bildsprache, als auch mit ihren Inhalten an. Z.B. erhält sie 1988 vom VBK den Auftrag Künstler:innen aus mehreren sozialistischen Ländern zu fotografieren, die ihrerseits Arbeiter:innen der Buna-Werke malen sollen.
Bewusst nimmt sie den Auftrag nicht wegen der Portraits an, sondern um in das Werk zu gelangen.
Entsetzt von der massiven Umweltverschmutzung und den desolaten Zuständen in der Chemiefabrik fotografiert sie heimlich das Werk. Nachdem sie ihre Fotos dort in einer kleinen Ausstellung zeigt, wird ihr die Kamera weggenommen. In diesen Jahren arbeitet sie ebenfalls als Rechercheurin und Fotografin für das DEFA Studio für Dokumentarfilme, für den Filmemacher Volker Koepp sowie für den Film „flüstern & SCHREIEN – Ein Rockreport“ von Dieter Schumann, für den sie auf ihre Erfahrungen im Ostberliner Underground zurückgreifen kann.
1986 beginnt sie ein Fernstudium der Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB) bei Arno Fischer, um ihre künstlerische Arbeit in einen Diskurs des Lernens zu stellen.
Weiterhin fotografiert sie Freunde und Bekannte, geht mit der Kamera näher und näher heran, zeigt viel Haut und Menschen in Momenten des Schmerzes oder Unbehagens. Parallel fühlt sich die Künstlerin immer mehr gefangen, leidet darunter sich nicht frei bewegen, nicht reisen und sich nicht frei ausdrücken zu können und wird psychisch instabil. Außerdem verlassen immer mehr Menschen die Stadt und reisen in den Westen aus, viele ihrer Freundinnen über die Möglichkeit einer Hochzeit mit einem westdeutschen Mann. In dieser Situation lernt sie 1988 den Westberliner Ost-Korrespondenten Peter Gärtner kennen und heiratet auch. Im Mai 1989, kurz vor dem Fall der Mauer, verlässt sie die DDR und zieht nach West-Berlin.
Ihr Ankommen in West-Berlin, in einem anderen politischen System, dessen Regeln sie zu Anfang nicht kennt, empfindet sie als befremdlich und verunsichernd. Anfang der 90er Jahre fotografiert sie in einer Portrait-Serie andere Frauen, die ebenfalls aus dem Osten in den Westen Deutschlands emigriert sind, auch, um sich ihrer eigenen Situation klarer zu werden. Von 1990 bis 1991 arbeitet sie an der Serie „Körperkonstellationen“.
1991 absolviert sie nachträglich das Diplom im Fach Künstlerische Fotografie bei Professor Arno Fischer an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB). Und 1993 wird sie selbst als Professorin für künstlerische Fotografie an die HGB berufen.
In den 2000er Jahren erweitert sie ihre fotografische Arbeit um Texte, die auf Gesprächen basieren, und beschäftigt sich filmisch mit den Möglichkeiten von Videoaufnahmen. Sie kommt mit ihrer Kollegin Alba D’Urbano näher in Kontakt, sie entdecken gemeinsame Themen und Interessenfelder und arbeiten seitdem projektbezogen auch als Künstlerinnenduo zusammen.
Im Büro von Alba D’Urbano stößt sie 2007 zufällig auf einen Katalog der Künstlerin Dora García, die für eine Arbeit Fotografien aus dem ehemaligen Bestand der Staatssicherheit verwendet hatte. Auf dem Titelfoto erkennt sie sich selbst, nackt, mit einem schwarzen Balken über den Augen, im Katalog eine ganze Gruppe junger nackter Frauen mit Picknickkörben an einem See. Das Künstlerinnenduo geht der Geschichte dieser Fotos nach und entwickelt über mehrere Jahre einen eigenen Werkkomplex unter dem Titel „Covergirl: Wespen-Akte“, in der die Geschichte dieser Bilder, die zu Erinnerungszwecken im Rahmen eines Treffens der „Frauen für den Frieden“ entstanden, dann in die Hände der Stasi fielen und später im westlichen Kunstkontext landeten. Seither wurde die Arbeit vielfach ausgestellt, im September 2019 erschien das gleichnamige Buch im Verlag Spector Books, Leipzig.
Tina Bara erhielt Stipendien und Projektförderungen und kann auf die Beteiligung an zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland verweisen, sowie auf Buchveröffentlichungen und internationale Workshop-Projekte.
2016 produziert sie den künstlerischen Foto-Film „Lange Weile“, in dem sie Fotografien aus ihrer DDR-Zeit zu einer Erzählung zusammenfügt. Der Film wird seitdem (mit mehrsprachigen Untertiteln) im In- und Ausland aufgeführt, u.a. auf dem Internationalen Frauenfilmfest Dortmund/Köln, zum Fotofestival in Arles, innerhalb der Ausstellung „Medea muckt auf. Radikale Künstlerinnen hinter dem Eisernen Vorhang“ in Dresden und Los Angeles oder aktuell im Museum für Zeitgenössische Kunst in Vilnius. Die Fotos des Films erschienen 2016 in dem gleichnamigen, vergriffenen Künstler-Buch, erschienen in der Edition Fotohof.
Zur Zeit fotografiert Tina Bara Frauen über 50 mit Bäumen und führt Gespräche über die Auswirkungen europäischer Nachkriegsgeschichte im Rahmen der Familiengeschichten ihrer Gegenüber.
Tina Bara lebt und arbeitet heute in Berlin und Leipzig.
Cornelia Schleime wird 1953 in Ost-Berlin geboren und wächst hier ohne Geschwister auf. 1970 schließt sie eine Friseurlehre ab, die einzige Voraussetzung für das angestrebte Studium der Maskenbildnerei an der Fachhochabteilung der Dresdner Hochschule für Bildende Künste (HfBK). Nach zwei Jahren bricht sie das Studium ab und wechselt nach einer Pause zum Studiengang Malerei und Grafik ebenfalls an der HfBK Dresden.
Noch während des Studiums, 1878, wird ihr Sohn Moritz geboren. 1979 schließt sie sich der alternativen Kunstszene in Dresden an, die mit neuen Kunstformen experimentiert. Ihre Teilnahme an einer systemkritischen Ausstellung, der „Türen-Ausstellung“ im Leonhardi-Museum, führt zu ersten Konflikten mit Vertretern der offiziellen Kunstpolitik, die die Ausstellung als Provokation empfinden. Mit dem Künstler Ralf Kerbach und anderen gründet sie die Punkband Zwitschermaschine.
1980 beendet sie ihr Studium an der HfBK Dresden. In dieser Zeit beschäftigt sie sich intensiv mit Körperaktionen, die sie fotografisch dokumentiert. Ihr weitgefasster Kunstbegriff sowie unkonventionelle Ausstellungen führen 1981 faktisch zu einem Ausstellungsverbot.
1982 zieht sie zurück nach Ost-Berlin, wo sie unter anderem Super-8-Filme macht. Im Jahr 1982 wird ihr Lebenspartner Ralf Kerbach zur Ausreise gezwungen und siedelt über nach West-Berlin. Cornelia Schleime versucht vergeblich ebenfalls auszureisen, aber ihre Ausreiseanträge werden abgelehnt. Erst als sie 1984 während eines Telefonats, was abgehört wird, mit einem Hungerstreik droht, wird ihrem Ausreiseantrag stattgegeben und sie muss binnen 24 Stunden die DDR verlassen. Außer ein paar Fotografien, Super-8-Filmen und Kunstbüchern musste sie ihr gesamtes Œuvre notgedrungen in ihrer Wohnung zurücklassen. Sie zieht nach West-Berlin, wohnt zuerst bei Freunden, 1985 kann sie eine eigene Wohnung beziehen. Sie erfährt in dieser Zeit, dass ihr gesamtes Œuvre, das sie in Ost-Berlin zurücklassen musste, spurlos verschwunden ist. Verzweifelt versucht sie daraufhin die verlorenen Kunstwerke zu ersetzten: „Wie besinnungslos begann ich zu malen, den Verlust der Bilder zu kompensieren, in dem Stil der Bilder, die verloren waren.“
1985 erhält sie ein Stipendium des Senators für Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, und beginnt zu reisen. 1986 Beteiligung an der Ausstellung „Malstrom“ in West-Berlin, zusammen mit Helge Leiberg, Ralf Kerbach, Hans Scheib und Reinhard Stangl. 1989 bis 1990 erhält sie ein DAAD / PS1 – Stipendium und tritt einen einjährigen Arbeitsaufenthalt in New York an. Es ist gerade in einer Zeit, in der sie langsam, aber sicher im Westen angekommen ist, dass die Berliner Mauer fällt.
1991/92 erfährt sie von der jahrelangen Bespitzelung durch ihren Vertrauten Alexander „Sascha“ Anderson, der als inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) unter anderem auch über sie Bericht erstattet hat. 1992 entsteht als Reaktion auf die Einsicht in ihre Stasi-Akten die Serie „Bis auf weitere gute Zusammenarbeit“, in der sie Akten verfremdet, die darin enthaltenen Texte mit inszenierten Fotos von sich selbst versieht – eine wütende Persiflage.
Die Künstlerin unternimmt ab 1990 viele Reisen, beispielsweise nach Griechenland, Indonesien, Hawaii, Irland und Kenia.
In den Jahren 1992 bis 2016 erhält sie mehrfach Stipendien, hochdotierte Auszeichnungen und stellt ihr Werk mehrfach aus. 1995 erhält sie Künstlerinnenförderung der Senatskanzlei für kulturelle Angelegenheiten, Berlin, und beginnt ihre großen Gemälde mit Asphaltlack und Schellack zu überziehen. 2000 wird sie Mitglied in der Sächsischen Akademie der Künste. 2008 bringt sie ihren ersten Roman „Weit fort“ heraus. „2016 wird ihr für ihr Lebenswerk der Hanna-Höch-Preis des Landes Berlin verliehen.
Sie ist weiterhin sehr aktiv. 2022 veröffentlicht sie zusammen mit Martin Walser „Das Traumbuch: Postkarten aus dem Schlaf“, Rowohlt Verlag. Außerdem stellt sie im Rahmen von Einzelausstellungen aus wie folgt: Frühjahr 2022 „Moonland“ in der Livingstone Gallery, den Haag, Niederlande, Mai bis Juni 2022 „An den Ufern ferner Zungen“ im Kunsthaus Apolda Avantgarde und anschließend zu Jahresende im Kunstverein Münster. Sie lebt und arbeitet in Brandenburg und Berlin.
Bei meiner Suche nach Protagonistinnen für diesen Film habe ich mich gefragt: Welche Künstlerinnen waren fotografisch und künstlerisch tätig und zugleich Dissidentinnen? Die Suche gestaltete sich als schwierig, weil Dissident:innen meistens nicht gleichzeitig Künstler:innen waren, eher politisch aktiv, und sie fotografierten vielleicht nebenher. Aber ich suchte Bilder, die einen starken Ausdruck hatten, die mich in den Bann zogen und nicht mehr losließen. Um so schöner war es, dass ich diese Künstlerinnen dann nach langer Suche fand. Und ich fand noch mehr, von dem ich nichts wusste.
Die teilweise krassen Bilder von Tina Bara, Cornelia Schleime und Gabriele Stötzer ließen mich anfangs zurückschrecken. Ich brauchte eine Weile, bis ich sie verstand. Beim Drehen wurde mir öfters schwindelig, so aufgeladen war die Emotionalität während der Gespräche. Ich erinnere mich an den Dreh mit Gabriele in Erfurt, wo ich auf den Balkon gehen musste, um mich zu erholen. Ihre Geschichten waren einfach zu unglaublich. Dass der Staat ihr einen Transvestiten zuspielte, den sie fotografieren sollte, damit man ihr später Pornografie als Straftat vorwerfen konnte, um sie dann ins Gefängnis zu kriegen – unfassbar. Auch Tina und Cornelia hatten traumatische Erfahrungen gemacht.
Wenn ich mich frage, was mich zu diesem Film antrieb, dann ist das der universelle Ausdruck der im Film gezeigten Bilder. Es sind starke Bilder des weiblichen Widerstands im Angesicht der Unterdrückung. Sie könnten überall auf der Welt gemacht worden sein, zu jeder Zeit. Die Haut, das Nacktsein, das Verletzliche, die Geste sich selbst auszuliefern – das ist so stark. Und zieht mich nach wie vor in den Bann. Diesem Ausdruck wollte ich eine Bühne geben.
Zum Schluss noch diese Frage: Hätten wir (aus dem Westen) je so viel Freiheitssinn innerhalb der DDR vermutet, wie er von diesen drei Künstlerinnen kommt? Erstaunlicherweise werden diese Bilder erst jetzt entdeckt, durch diesen Film und anderenorts, sie werden aus den verstaubten Schubladen ans Licht geholt. Endlich.
Pamela Meyer-Arndt (Buch & Regie) wurde 1967 in Köln geboren. Ab 1986 studierte sie Film an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg bei Helke Sander und Gerd Roscher. Durch ein DAAD-Stipendium machte sie ein Aufbaustudium an der NYU Graduate Filmschool in New York. Während des Studiums und ihres dreijährigen Aufenthalts in der Metropole realisierte sie mehrere fiktive Kurzfilme und lernte bei New Yorker Independent-Filmproduktionen (Spielfilm), zum Beispiel beim Filmemacher Amos Poe. Nachdem sie anschließend an ihr Studium in Köln im Bereich Spielfilm und der Werbefilmbranche arbeitete, zog sie 2003 nach Berlin in den Prenzlauer Berg. Inspiriert durch die noch allgegenwärtigen Spuren deutscher Geschichte wie bröckelnde Häuserfassaden und der flirrenden Atmosphäre einer hier immer noch ansässigen Ost-Bohème, begann sie nach Fotos und Zeugnissen aus DDR-Zeiten zu suchen. So kam sie auf das Thema für ihren ersten dokumentarischen Film über Fotografie in der DDR, „Ostfotografinnen“ mit Sibylle Bergemann, Helga Paris und Gundula Schulze Eldowy. Seitdem setzt sie sich in ihren Filmen immer wieder mit Biografien von Künstlern aus dem Osten Deutschlands auseinander, zum Beispiel mit den Fotografen Ute Mahler & Werner Mahler und Roger Melis. Ihre Filme sind im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, bei Theaterinszenierungen, bei kulturellen Events sowie im Kino zu sehen.
2006 „Ostfotografinnen“
2010 „Dorfliebe“
2019 „Der Fotograf Roger Melis – Chronist der Ostdeutschen“
2020 „Rebellinnen“
Buch & Regie: Pamela Meyer-Arndt
Kamera: Lars Barthel
Montage: Andreas Zitzmann
Ton: Nic Nagel, Pamela Meyer-Arndt
Musik: Ulrike Haage
Titeldesign: Maria Lissel
Redaktion: Rolf Bergmann (RBB)
Produzent:innen: Irene Höfer, Andreas Schroth
eine Produktion der
in Koproduktion mit
gefördert durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Pamela Meyer-Arndt
Medea Film Factory
RBB
Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
2022
2. November 2022